An inneren Gestaden - Ein Gespräch mit der Sängerin und Professorin für Jazzgesang Anette von Eichel
Eigentlich wollen wir über Ihre Musik reden, auch über Ihre Arbeit an der Hochschule für Musik und Tanz, wo Sie Jazz-Gesang und Ensembles unterrichten. Aber die Dinge haben sich wieder zugespitzt.
Dass das kulturelle Leben wieder auf Stopp gesetzt ist, geht mir sogar jetzt beim Sprechen auf die Stimme. Ich finde die Situation schwierig und möchte mit den Politiker*innen nicht tauschen. Die Suche nach einem Weg aus der Krisensituation ist ein Ringen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und da fürchte ich, sind doch manche auf dem Holzweg. Nicht alle begreifen, dass kulturelle Werte eine Gesellschaft zusammenhalten. Im Moment wird Kultur als Unterhaltung und Freizeit verstanden, und darauf könne man verzichten. Dabei sind Theater-, Kino- und Konzertbesuche viel mehr! Das sind Orte und Momente, an denen wir gemeinsamen Werte reflektieren. Es ist ein nahezu körperliches Erlebnis, wenn man Kultur miteinander teilt und gemeinsam empfindet.
Es wird im Moment wieder viel diskutiert…
Corona legt sich wie ein Brennglas über vieles und offenbart Zustände, die gar nicht oder nur schlecht funktionieren. Prinzipiell wird Kultur in Deutschland als wichtig eingeschätzt, auch von der Politik. Wobei ich den Politikern nachsehe, dass sie am Anfang hier auch Fehler gemacht haben, aus denen sie aber hoffentlich jetzt lernen, etwa in Bezug auf den Unternehmerlohn für die freie Kulturszene. Das wird auch wichtig in der Beurteilung der ausgezahlten Hilfen im Frühjahr. Im Nachhinein sollte man niemandem ankreiden, dass er von dem Geld die Miete bezahlt hat.
Gleichwohl bleiben viele Musikerinnen und Musiker überfordert.
Dass die Kulturszene aus so vielen Selbstständigen besteht, hängt damit zusammen, dass in festen Strukturen wie auch an Musikschulen Festanstellungen schrittweise abgeschafft wurden. Die Leute kamen in Honorarsituationen, was bis jetzt funktionierte. Wir reden aber über eine Kulturbranche mit hunderttausenden Menschen, die unternehmerisch das Risiko selbst tragen und jetzt oft ganz unten in der Verwertungskette stehen, was die finanziellen Programme angeht. Wenn jetzt Milliarden ausgegeben werden, um den Lockdown abzupuffern, dann frage ich mich, wie viel am Ende für kulturselbstständige Künstler*innen, Schauspieler*innen, Musiker*innen und so weiter übrigbleibt. Deren Leben aber muss so gepuffert werden, dass sie tatsächlich solange wie nötig durchhalten können.
Kann das denn gelingen?
Die Frage nach der Perspektive stellt sich jetzt noch weit intensiver als in der ersten Lockdown-Phase: Wie lange wird unser faktisches Arbeitsverbot diesmal dauern? Wie werden die Menschen aufgefangen, und wie schafft man Perspektiven, damit wir durchhalten?
Können Sie auch als Musikpädagogin reagieren?
Die Situation bewegt sich in Wellen. Was die Arbeit an der Hochschule betrifft, sind wir wieder auf dem Stand von Ende Juni, nachdem es zwischendurch Hoffnung gab, dass im Wintersemester auch größere Ensembles wieder spielen können. Gerade hat das neue Studienjahr begonnen, viele junge Menschen kommen in dieser Situation frisch nach Köln. Die wissenschaftlichen und theoretischen Seminare müssen wieder online funktionieren, während wir den künstlerischen Einzelunterricht und den Unterricht mit kleinen Ensembles aufrechterhalten wollen, sodass tatsächlich noch Musik gemacht werden kann. Alle größeren Ensembles, Big Band, Orchester, große Chöre, können nicht in der regulären Form stattfinden.
Was ist mit der Stimme selbst?
In der Hochschule achten wir genau auf die Hygieneregeln, wie viel Abstand man beim Musikmachen voneinander haben muss, abhängig vom Instrument, Klavier, Saxofon oder Gesang. Das problematischste Instrument ist offenbar die Querflöte, weil man das Mundstück überbläst und dabei hohe Luftgeschwindigkeiten entstehen. Als Sängerin kann ich mich beim Singen nicht anders verhalten als sonst. Wir sind im Grunde wie Sportler*innen, die Automatismen abrufen, und ich fange jetzt nicht an, weniger tief einzuatmen, weil das gefährlich sein könnte. Ich persönlich singe im Moment nur in einer Umgebung, in der ich mich sicher fühle. Die Konzertveranstalter*innen haben sich in den letzten Monaten viele Gedanken gemacht, Konzepte eingereicht und sie gewissenhaft umgesetzt. Da ist jetzt wenig nachvollziehbar, warum ich mich nicht mit Maske in ein Konzert setzen darf, dafür aber in die U-Bahn, wo ich mit Leuten im schlecht belüfteten, engen Raum zusammen bin.
Wie gehen die Studierenden derzeit mit der Situation um?
Es ist schwierig für viele, dabei haben sie sich im Sommersemester tapfer geschlagen. Ich mache mit einem Kollegen immer eine Erstjahresvorlesung für die Studierenden im Fachbereich Jazz Pop, im Sommersemester war sie komplett online. Es war im Lockdown schön, wenigstens auf dem Monitor in winzigen Kacheln die Gesichter der jungen Leute zu sehen, sie waren hoch motiviert, auch weil es für sie wichtig war, sich als Gruppe überhaupt zu sehen. Solche Momente haben aber zwei Seiten: Man ist gemeinsam auf dem Bildschirm und zugleich einsam in seinem Zimmer. Hinzu kommt, dass das gemeinsame Musizieren im Sommersemester weggebrochen ist, aber auch die Jobs, etwa in Kneipen oder Konzerten, mit denen die Studierenden oft ihr Leben teilfinanzieren.
Ob die Hoffnung über den zweiten Lockdown hinaus reicht?
In gewisser Weise wird unsere Charakterstärke aufs Neue getestet, aber wir müssen uns jetzt anders verhalten als im Sommer. Im Sommer habe ich mich in einem kleinen Park mit drei Sängerinnen auf die Wiese gestellt und gesungen, als das wieder erlaubt war. Wir waren weit voneinander weg, haben geprobt, mal kam eine Studierende mit ihrem Bassisten auf die Wiese zum Einzelunterricht. Jetzt ist Winter, und wir müssen nicht weniger kreativ an neuen Perspektiven arbeiten. Streaming funktioniert auf Dauer in den Unterrichtssituationen nicht und kann nicht ersetzen, was uns fehlt. Im Sommer gab es viele Veranstaltungsorte im Freien, ähnlich müssen wir jetzt weiterdenken, damit Musik weiterhin zu den Menschen kommt und wir bei den Menschen bleiben. Wir müssen neue Formate entwickeln.
Ihr aktuelles Quartett feierte seine Premiere ebenfalls als Streaming-Konzert. Es war verblüffend, wie Sie jeden Song mit Emotionen füllten und zugleich mit der Kamera kommunizierten.
Ich bin von Natur ein offener Mensch und hatte mich gefreut, mit der neuen Band aufzutreten. Auch beim Streaming-Konzert ohne Publikum hatte ich das Bedürfnis, mich zu öffnen und zugleich Öffnungen bei meinem Publikum jenseits der Kamera zu schaffen. In jedem Konzert möchte ich mich verströmen, das ist ja das, was zwischen Künstler*innen und Publikum passieren soll, ein Fluss von Energie.
Im neuen Quartett begegnen sich vier Gleichberechtigte kreativ und aufmerksam auf Augenhöhe.
Ich sehe mich als eine Musikerin, die singt. Natürlich bin ich Sängerin, aber ich möchte vor allem spielen und kommunizieren. Deshalb war es mir wichtig, dass wir gemeinsam an der Musik arbeiten und es zum vertrauensvollen, dynamischen Austausch kommt. Mit Sebastian Sternal, Henning Sieverts und Jonas Burgwinkel, aber auch mit Saxofonist Jasper Blom, der für drei Stücke hinzukam, habe ich Kollegen gefunden, für die das auch eine große Rolle spielt, da fühle ich mich gut aufgehoben. Entscheidend ist, dass mich mein Leben als Künstlerin immer mehr zu mir selbst führt, zu meinem Inneren, was mir im Umkehrschluss ermöglicht, mich noch mehr zu öffnen. Die neue Platte wird entsprechend „Inner Tide“ heißen, innere Gestade.
In eines der Stück steigt Jasper Blom mit einem hymnischen „Gebet“ à la John Coltrane ein, auf das Sie spontan reagieren…
Auch für mich als Sängerin ist Coltrane ein wichtiger Einfluss, gerade weil ich meine Stimme im Kontext der Band sehe! Es geht mir darum, das, was assoziiert wird, entweder musikalisch zu verstärken oder einen Kontrapunkt zu setzen, im Gleichen wie im Anderen eine Ergänzung zu suchen. Ich bin ein poetischer, zugleich aber auch ziemlich wilder Mensch, das eine funktioniert bei mir nicht ohne das andere. Überhaupt gehört zu meiner Auffassung von Jazz eine gewisse Wildheit, eine Energie, und die wollte ich auch auf der CD haben.
Die CD besteht aus Ihren eigenen Kompositionen und Texten. Zuvor sangen Sie auch Stücke aus der europäischen Schlager-, Revue- und Chanson-Tradition, Friedrich Hollaenders „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“, Michael Jarys „Kauf Dir einen bunten Luftballon“ oder „The Good Life“ von Sacha Distel. Welche Bedeutung hat das für Sie?
Ich wähle mein Repertoire immer auf Resonanzen hin. Ich höre Musik, und sie ruft etwas in mir hervor, auf das ich mich beziehen kann. An Komponisten wie Hollaender, Sascha Distel oder auch Kurt Weill beeindruckt mich die europäische Tradition genauso wie das, was der amerikanische Jazz-Einfluss daraus macht. Zudem interessieren mich die bewegten Biografien hinter den Songs. Allein wenn man sich vergegenwärtigt, wie Michael Jary den homosexuellen Liedtexter Bruno Balz vor dem Abtransport ins Konzentrationslager rettete, ahnt man, welche Überlebenskünstler Musiker sein können und mussten. In gewisser Weise schufen Hollaender oder Theo Mackeben eine widerständige Musik, die unsere besten Qualitäten als Menschen hervorhebt. Insofern ist das, was Musiker*innen tun, durchaus politisch. Gerade der Jazz mit seiner Interkulturalität, seinen vielfältigen Formen der Kommunikation, dem Spiel mit Regeln und Regelbrüchen zeigt, wie man respektvoll miteinander umgehen kann.
Ist so etwas einer jungen Generation vermittelbar?
Im Umgang mit meinen Studierenden beziehe ich mich nicht nur auf Musik und Interpretationsmöglichkeiten, sondern auch auf unseren biografischen Hintergrund. Dabei wird unsere Arbeit persönlich, nicht unbedingt privat, aber doch persönlich, denn eine Stimme auszubilden, bedeutet, dass man großes Vertrauen zueinander und Respekt voreinander haben muss. In einem Musikstudium steckt viel Persönlichkeitsentwicklung. Die Pandemiesituation verstärkt diesen Aspekt, denn nur gemeinsam werden wir einen Weg finden, um damit zu leben. Die wird ja so schnell nicht weggehen, und wir können jetzt nicht alle bis 2022 die Luft anhalten
Anette von Eichel (geb. 1971) ist Jazz-Sängerin. Sie studierte in Den Haag bei Rachel Gould und Jeanne Lee, singt in vielen kleinen und großen Ensembles. Seit 2010 ist sie Professorin für Jazz-Gesang und Ensemble, sowie Prodekanin an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln. Im Januar 2021 erscheint ihre neue Quartett-CD „Inner Tide“.
Das Gespräch führte Horst Peter Koll.