Ganz großes Kino – Ein Gespräch mit dem Schlagzeuger Jonas Burgwinkel

Der Schlagzeuger Jonas Burgwinkel ist einer der weltbesten Filigran-Rhythmiker, der seine Fertigkeiten in nahezu allen Spielarten zwischen Jazz-Klassik und Avantgarde ausreizt. Bei Live-Auftritten mag man gar nicht wegschauen, wenn er mit Sticks, Besen, Paukenschlägeln, Bambus Rods und Brushes operiert, mitunter eine Trommel mit der Hand schlägt, das Hi-Hat mit Gegenständen „abtönt“ oder Toms und Snare Drum mit wundersamen Gerätschaften reibt. Selbst inmitten der komplexesten Grooves tönt, klackert und rasselt es, und wenn Burgwinkel einen in den Mikrokosmos seiner Rhythmen zieht, wird er zum oft gar melodisch klingenden Geschichtenerzähler, der bei aller Gruppendienlichkeit großes Kino bietet

Nun liegt das zehnte Festival des Klaeng-Kollektivs hinter Dir, das Du als Gründungsmitglied von Beginn an aktiv mitorganisiert. Zehn Jahre Klaeng: Willst Du da ein Resümee formulieren, oder gibt es vielleicht den Punkt, an dem alles zum Ende kommt?

Nein, überhaupt nicht! Ich fand die diesjährige Ausgabe sehr schön, sowohl die Stimmung beim Publikum als auch bei den Künstlern backstage. Für mich war es dieses Mal speziell, weil es jetzt mit zwei Kindern, darunter einem noch sehr kleinen, halt anders gemanagt werden muss. Eigentlich will und muss man ja beim Klaeng-Festival ständig Präsenz zeigen, einfach da sein. Das ist es, was es ausmacht, dass wir immer alle da sind und uns persönlich um die Künstler kümmern. Wir lassen das ganz bewusst nicht alles von den Haustechnikern abwickeln, sondern packen die ganze Zeit mit an. Bei der ersten Festival Ausgabe gab es noch keine finanzielle Unterstützung, da haben wir fast nur selbst gespielt. Das, was an Einnahmen hereinkam, haben wir an die Bands von außerhalb ausbezahlt, wir selbst haben alles quasi für umsonst gemacht. Mittlerweile kriegen wir auch ein kleines Honorar, was aber den großen Arbeitsaufwand nicht ausgleicht. Wir planen eine Festival-Ausgabe übers ganze Jahr, treffen uns regelmäßig, bedienen zahllose E-Mail-Verteiler und so weiter… 

Wie geht das, wenn Du dann noch selbst auftrittst, in diesem Jahr mit dem Quartett Die Verwandlung von Frederik Köster? Du springst ja von einer Rolle in die andere, wirst vom Veranstalter zum Künstler.

Das ist schon eine Herausforderung, auch noch selbst zu spielen. Aber mit Frederik Köster ging das dieses Jahr ganz gut, vor allem auch, weil wir die Regelung haben, dass Klaeng-Musiker, die an dem Tag auftreten, nicht auch noch Soundcheck-Betreuung oder so etwas machen müssen. So hält man sich gegenseitig den Rücken frei, ansonsten war man früher manchmal auch schon ganz schön am Ende, noch bevor spielen sollte.

Auf der Klaeng-Konzertbühne steht stets eine alte Wohnzimmerstehlampe, die war auch auf dem Cover Deiner CD „Source Direct“ zu sehen...

Die stammt aus dem Burgwinkel-Haushalt, wir hatten sie schon beim ersten Festival dabei, und sie wurde dann ein bisschen zu einer Art Markenzeichen. Zunächst veranstalteten wir das Festival im Subway auf der Aachener Straße, das war zu damaligen Zeitpunkt nur ein Nachtclub, in dem gar kein Jazz mehr stattfand. Da haben wir alles von zuhause mitgebracht, Teppiche, Stühle, alles Mögliche, um es ein bisschen gemütlicher zu machen. So haben wir dann auch ein paar Lampen mitgebracht, vor allem diese.

Als im Oktober der neue Club JAKI im Stadtgarten eröffnet wurde, stand auf der kleinen Konzertbühne das Original-Schlagzeug von Jaki Liebezeit. Du nahmst dahinter Platz, um mit Hilfe eines Backing Tracks ein energiegeladenes, virtuelles Duett mit dem 2017 gestorbenen Can-Schlagzeuger zu spielen. Das hatte viel Charme.

Das war ohne jede Probe, ich hatte das Schlagzeug gar nicht ausprobiert und es erst kurz zuvor zum ersten Mal gesehen. Dann lief zu Beginn der Improvisation dieser Backing Track, was eine gewisse Energie vorgab. Nun ist das eigentlich kein Schlagzeug, aus dem so richtig viel rauskommt, keine Becken, keine Hi-hat, es fühlte sich für mich eher komisch an. Ich würde das selbst nie so aufführen, aber es war vor allem eine Geste und natürlich eine Ehre für mich. Es ging ja um das Event, und genau das war der Reiz.

Ein wenig tauchen da Erinnerungen an die Zeit im Club Stecken auf, wo Du Sessions zwischen Free Jazz, Groove, TripHop, House und elektrischem Miles Davis organisiert hast. DJ Illvibe, Hans Nieswandt waren dabei, Niels Klein und Sebastian Müller, auch Pablo Held (sogar am E-Piano) und Bassist Robert Landfermann waren daran beteiligt, Freunde und Weggefährten im Pablo Held Trio.

Im Stecken war es so voll mit jungen Leuten, die Grundlautstärke war enorm hoch. Das hat dazu geführt, dass wir schon mit einer viel höheren Grundenergie angefangen haben und sich daraus dann eine eigene Spielkultur entwickelt hat. Auch damals war ich schon eher der filigranere Spielertyp, aber im Stecken habe ich es besser gelernt, auch im improvisierten Kontext Druck erzeugen zu können.

Die klassische Trio-Besetzung ist zentral für Dich, da ist vor allem das Pablo Held Trio, aber es gibt auch andere, etwa mit der Gitarre von Hanno Busch. Welchen Stellenwert hat das Trio für Dich?

Für mich ist es die kleinste vollkommene Form. Beim Duett hat man immer die Tendenz, etwas zu kompensieren, das nicht anwesend ist, als Trio aber kann man alles machen, hat Harmonien, Bass und Rhythmus. Wobei ein Trio mit Schlagzeug und Bass nicht unbedingt zwingend ist, ich habe beispielsweise auch ein Trio mit Airelle Besson und Sebastian Sternal, also Trompete, Klavier und Schlagzeug. Das geht sehr gut, da begleitet die Trompete das Klavier ebenfalls und kann fehlende Bass-Funktionen gegebenenfalls melodisch und harmonisch ausgleichen. Wenn ich im Trio spiele und der Bassist die ganze Zeit über sehr aktiv spielt, dann ziehe ich mich automatisch ein Stück zurück, um das auszugleichen. Wenn ich aber mit einem Bassisten spiele, der viel supportet und „straight“ spielt, dann habe ich mehr Platz, um mich auszutoben und Variationen zu spielen. Das sind so Dinge, die sich in Bruchteilen von Sekunden ändern können, sodass man einen Raum, der sich ergibt, blitzschnell einnimmt – oder eben auch nicht. Das sind kleine psychologische Sachen wie in einer Unterhaltung, es ist ja faktisch eine musikalische Unterhaltung. Ich merke, du willst etwas sagen, doch ich rede weiter, das passiert beim Spielen genauso. Solche kommunikativ spontanen Sachen prägen auch, wie es sich anfühlt, mit jemandem zu spielen.

Wobei beispielsweise ein Robert Landfermann ja nie der mal still, mal „straight“ reagierende Mitspieler ist, sondern stets auf Augenhöhe mit Dir als kongenialem Gesprächspartner agiert.

Deswegen ist es so extrem hilfreich, wenn man sich gut kennt. Dass man genau weiß, wie gewisse Sachen überhaupt gemeint sind und wann man sich mal zurücknimmt oder wann man mehr Druck macht. 

Wie ist es mit jemanden wie Larry Grenadier, einem Bassisten aus einer ganz anderen Tradition, der etwa in den Trios von Pat Metheny und Brad Mehldau spielte?

Standards mit Larry Grenadier zu spielen, macht wahnsinnig viel Spaß. Er ist ein ganz besonderer Bassist, und was bei ihm als erstes ins Auge oder besser ins Ohr sticht, ist seine Klarheit sowohl im Spiel als auch bereits in der Idee. Das macht es sehr leicht, mit ihm zu spielen. Er hat einen unglaublichen Sound, viele technische Möglichkeiten, spielt super mit dem Bogen. Er entstammt der amerikanischen Bass-Schule, hat so ein natürliches, groove-betontes Begleiten, was aber trotzdem sehr kreativ und kommunikativ ist, sodass man ihm immer gern zuhört. 

Du spielst aktuell wieder mit Larry Grenadier und mit Sebastian Sternal im Trio. Was ist das Besondere im Zusammenspiel mit Sebastian Sternal, was ist anders als bei anderen Pianisten, etwa bei Pablo Held?

Pablo und er sind Seelenverwandte in ihrer Lust zu improvisieren, wobei Sebastian eine ganz andere Entwicklung hinter sich hat. Er ist ja auch klassischer Pianist, hat seine eigene Klangästhetik und eine bestimmte Art zu phrasieren, was für mich als Schlagzeuger der wohl größte Unterschied zwischen beiden ist. Beide sind rhythmisch sehr klar, jeder aber auf seine eigene Weise. Es ist schwierig, das genau zu benennen. Sebastian spielt vielleicht noch mehr Songs, aber auch Pablo spielt natürlich Standards, beide haben da ihre besondere Ästhetik. Auch gibt es Überschneidungen bei ihnen, sie hatten ja dieselben Lehrer, Hubert Nuss und John Taylor. Und sie sind beide riesige Herbie-Hancock-Fans.

Du hast Dein Privatleben angedeutet: Es ist ja spannend, wenn sich zu den künstlerischen Entwicklungen die privaten gesellen. Hast Du dich dabei als Musiker verändert?

Diese Phase, in der man sich vorrangig um sich selbst kümmert, um auf seinem Instrument immer besser zu werden, die hatte auch ich sehr lange. So an die 200 Konzerte habe ich im Jahr gespielt, im Nachhinein viel zu viel. Dann kam ich an einen bestimmten Punkt und fragte mich: Okay, und das war es jetzt, so soll es die nächsten 40 Jahr weitergehen? Es war genau das, was ich immer machen wollte, aber wenn man ständig unterwegs ist und sich immer nur mit Musik beschäftigt, dann ergibt das irgendwann eine Art Vakuum. Da verkümmert eine Seite in einem, Stichwort Familie, auch Heimat. Man muss seine Musik ja mit Inhalten füllen, mit Leben, muss immer wieder etwas zu erzählen haben. Wenn man aber nur davon erzählen kann, dass man wieder sechs Stunden im Auto saß, einen Film geguckt hat, bevor es dann auf die Bühne ging, dann wird Musik zum Selbstzweck. Das man kann mit Routine überspielen, irgendwann aber fühlt es sich inhaltsleer an. So wie ein optisch gutaussehender Film mit tollen Schauspielern, der aber ohne echte Story ist. 

Seit 2011 bist Du Professor für Jazz-Schlagzeug an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln. Hat sich durch die neue Aufgabe ebenfalls etwas in Deiner Musik verändert?

Erst einmal gar nicht. Klar, am Anfang hatte man viel Druck, weil man mit einem Mal eine andere Rolle einnehmen muss, in der man noch nicht fest im Sattel sitzt. Auf einmal wird man anders gesehen und muss darüber nachdenken, was man wem da jetzt erzählt und was nicht. Wie ich mit Studierenden rede, mit denen ich ein Jahr früher noch ganz anders geredet hätte, was aber in der neuen Rolle jetzt nicht mehr so einfach geht. Das sind deutliche Veränderungen, aber für mein künstlerisches Schaffen hat das kaum einen Unterschied gemacht.

Du hast viele fantastische junge Schlagzeuger ausgebildet, Fabian Arends, Leif Berger und Thomas Sauerborn sind nur einige von ihnen. Wie muss ich mir das vorstellen: Du gibst ihnen etwas von Deinem Wissen und Können ab, gibst etwas weiter, was sie in ein künstlerisches Verhältnis mit sich selbst setzt… 

Die Studierenden machen immer wieder ihre eigenen Phasen durch, was man am Anfang, wenn man gerade erst anfängt zu unterrichten, noch gar nicht richtig erkennt. Mittlerweile weiß ich, dass es eine Art Idealverlauf innerhalb dieser vier bis fünf Jahre gibt. Es beginnt mit Aneignen und Übernehmen, dann folgt so eine Art Phase der zweiten Pubertät, die ist geprägt vom Abwenden und hinterfragen, meist auch von mir und meiner Person. Das ist gut und darf so sein, bevor ganz am Ende, wenn das Abschlusskonzert näher rückt, alles meistens wieder zusammenkommt. An der Kölner Musikhochschule habe ich das Glück, mit extrem talentierten jungen Musikern zu arbeiten, die auch von sich aus schon eine Menge mitbringen, und es ist eine schöne Aufgabe, gemeinsam ihr Potenzial über die Studienzeit aufzudecken.

Vermittelst Du auch so etwas wie Jazzgeschichte?

Jazzgeschichte gibt es als ein eigenes Fach, aber wir hören öfters zusammen Musik, dabei frage ich, ob jemand ein Stück kennt und erkennt. Mir ist wichtig, dass Studierende viel Hörerfahrung sammeln. Ich hatte schon Fälle, dass manche gut spielen, aber einfach nicht wissen, wer Miles Davis ist. Wir machen dann so Sachen wie Blindfold-Tests: Wer spielt da, wer spielt den Bass oder das Schlagzeug? Dadurch erkennen viele, wie hilfreich es ist, möglichst viele Sachen zu kennen. Wobei sich die Haltung zur Musik immer wieder auch für mich selbst ändert. Ein bisschen ist das wie mit „Interstellar Space“ von John Coltrane: Früher, als ich mit Jazz angefangen habe, hielt ich das für eine krasse Free-Jazz-Platte. Dann hatte ich sie ein paar Jahre nicht mehr gehört, und als ich sie dann wieder mal auflegte, dachte ich: Die ist ja total schön, gar nicht wild, sondern eher schon meditativ. Es werden zwar viele Noten gespielt, aber die Frequenz ist so schnell, dass sich fast schon wieder eine Fläche ergibt.

Wenn dann so ein perfekt ausgebildeter junger Schlagzeuger aus der Ausbildung herauskommt, wie ist das dann für Dich?

Die Rolle ändert sich dann ein weiteres Mal, das kommt aber nicht abrupt, er geschieht schrittweise schon während des gesamten Studiums. Man lernt nicht erst ganz am Ende einen perfekten Musiker kennen, sondern weiß schon früh, was er später einmal sein kann und dann hoffentlich auch wird. Man zeigt ihm viel und gibt ihm viel mit, bis man irgendwann eher die Funktion eines Mentors ausübt, der Tipps gibt: Das ist super, was du da machst, aber wie wäre es, wenn du das jetzt mal so oder so probierst? Im Übrigen: Es sind ja nie „meine Studenten“. Klar, die kriegen bei mir Unterricht, und ich sage ihnen, was ich weiß, aber sie bleiben immer ihre eigene Person und würden auch ohne mich ihren Weg machen. Im Idealfall entwickeln sie sich zum gleichwertigen Kollegen, wobei ich ihnen immer sage, dass ich nie ihr Maßstab sein darf: Ich zeige ich dir was, aber es muss dein Anspruch sein, dass du besser wirst als ich. Ich bin 15 Jahre älter als du, und du musst der junge Typ sein, der die alte Generation überwerfen will. Es darf nie so sein, dass jemand meint, er wolle so gut sein wie sein Lehrer, und das reicht ihm dann.

Grundsätzlich: Entwickelt sich derzeit der Jazz in Köln gut und richtig für Dich? 

Meine subjektive Wahrnehmung schweift da gewiss immer wieder mal ab, aber so, wie ich das generell mitbekomme, läuft es aktuell gut. Es gibt verheißungsvolle kulturpolitische Entwicklungen in der Stadt, auch mit dem Stadtgarten als Europäischem Zentrum für Jazz und Aktuelle Musik geht es weiter voran, mit verschiedenen Förderprogrammen und Stipendien. Auch wächst die Zahl der Spielorte, da hat sich eine neue Dynamik entwickelt, das tut uns Musikern sehr gut, aber auch der gesamten Stadt.

Das Gespräch mit Jonas Burgwinkel führte Horst Peter Koll Anfang Dezember 2019.

Horst Peter Koll schreibt seit vielen Jahren über Film und Kino, war Chefredakteur zweier Filmmagazine und engagiert sich vor allem auch für den Kinder- und Jugendfilm, aktuell als Kurator beim Online-Portal filmfriend.de. Dem Jazz folgt er inzwischen seit einem halben Jahrhundert, veranstaltete mitunter selbst Konzerte und schreibt gerne über junge wie alte, renommierte wie neue Musikerinnen und Musiker, vorrangig im "Kölner Stadt-Anzeiger".